Herausforderung: Weniger - Älter - Bunter

Die Bevölkerung wird älter
Quelle: RVR-Fotoarchiv (Schumacher)
Der so genannte "Demografische Übergang" führte also von schwachem Wachstum bei hohen Geburten- und Sterberaten hin zu ebenfalls schwachem Wachstum bei niedrigen Geburten- und Sterberaten, wobei letztere leicht unter den Geburtenzahlen lagen, also noch ein Wachstum generiert wurde.

Dieser Prozess erfährt in den letzten Jahren eine neue Qualität, von manchen Autoren der "Zweite demografische Übergang" (Lesthaeghe 2002) oder die "Demografische Zeitenwende" (Birg 2002) genannt. Seit dem ausgehenden letzten Jahrhundert sinken in Deutschland die Geburtenraten erneut ab und unterschreiten die Sterberaten.
Bevölkerungsentwicklung in Nordrhein-Westfalen 1990 bis 2050
Quelle: LDS 2006, S. 7
Der natürliche Saldo wird negativ, aber im Gegensatz zu ähnlichen Phasen früherer Zeit, die von eher kurzer Dauer (Kriege, Seuchen) waren, dürfte der gegenwärtige Trend nach heutiger Kenntnis von Dauer sein, zumal auch die Wanderungssalden - errechnet aus interregionalen und ausländischen Zu- und Abwanderungen - so gering sind, dass sie den natürlichen Verlust nicht ausgleichen können. Die Bevölkerung schrumpft, sie wird langfristig "weniger", wie das Beispiel der Prognosen für Nordrhein-Westfalen bis 2050 zeigt. Eine Beispielrechnung möge das Gefährdungspotenzial verdeutlichen. Dabei entspricht die Fruchtbarkeitsrate von ca. 1,4 Kindern pro Frau etwa einer Bestandserhaltungsrate von 0,7. Diese Rate bedeutet, dass in 50 Jahren - also etwa zwei Generationen - der Bestand um mehr als die Hälfte gesunken sein wird.
Zeitliche Auswirkung der heutigen Bestandserhaltungsrate von 0,7
Quelle: Junkernheinrich, Micosatt 2005, S. 53
Sie wird aber auch auf Grund der geringen Geburtenraten unter den Deutschen älter, wohingegen die Bevölkerung mit Migrationshintergrund höhere Geburtenraten aufweist und somit - auch unabhängig von Einwanderungssalden - wächst.

Die Bevölkerung wird "weniger":
Noch 2004 waren die Regionen mit Bevölkerungsabnahme weitgehend auf die Länder Ostdeutschlands und einige Inseln - teils im Ruhrgebiet gelegen - beschränkt. Vergröbert bildete das Verteilungsmuster von Wachstum und Abnahme ein großes "K". Bis 2050 ergreift die Abnahme viele deutsche Großräume flächendeckend, die Wachstumsregionen sind in einzelne Inseln zerfallen und nur noch in Süddeutschland in größerem Umfang erkennbar.
Karte des großen ?K?: Deutschland Bevölkerungsentwicklung
Quelle: BBR (2005) Raumordnungsbericht 2005. Berichte Bd. 21, Bonn, S.33.
Gewicht der Komponenten der regionalen Bevölkerungsentwicklung in den Kreisen und kreisfreien Städten in NRW 2005 - 2025
Quelle: ILS 2007, S. 12
Die Schrumpfungstendenzen zeigen sich ganz besonders im Ruhrgebiet, das bereits seit vielen Jahrzehnten - bedingt durch den Arbeitsplatzverlust des Montansektors - unter lang anhaltenden Abwanderungen vor allem der jungen, oft gut ausgebildeten Menschen im Familiengründungs- (und Berufseinstiegs-) Alter leidet. Deren Kinder werden andernorts geboren oder aufgezogen, nicht aber im Ruhrgebiet. Hier fehlen sowohl die Kinder jener Eltern, die in den 1970er Jahren (im Zuge des "Pillenknicks") gar nicht geboren wurden als auch die Kinder der Abgewanderten.

Abgesehen davon, dass sich innerhalb Nordrhein-Westfalens nur Paderborn, Köln und Bonn im Quadranten positiver Geburten und Wanderungssalden finden lassen, ist das Ruhrgebiet überwiegend im Bereich negativer Geburten- und Wanderungssalden zu finden. Zu den Gründen der sinkenden Geburtenziffern vgl. die folgende Vertiefung.
Tabelle der Lebenserwartung ("Sterbetafel") in NRW 1962 - 2004
Quelle: LDS 2006, S. 5
Die Bevölkerung wird aber nicht nur weniger, sie wird auch besonders schnell "älter", da einerseits die Lebenserwartung zunimmt, andererseits heute die Kinder der Abgewanderten und der nicht geborenen Eltern fehlen. Das Ruhrgebiet eilt dabei den durchschnittlichen Bevölkerungsprozessen Deutschlands um eine Generation (25 Jahre) voraus (Klemmer 2001). Die Alterspyramide des Ruhrgebietes weist eine Tendenz zur Pilzform mit bislang unbekannter Dominanz der oberen Altersklassen auf.
Alterspyamide Ruhrgebiet 2005 und 2025
Quelle: LDS 2006, S. 19
Junkernheinrich/Micosatt (2005) stellen fest, dass mit der Veränderung der Bevölkerungszahl eine nachhaltige Veränderung der Altersstruktur verbunden ist. Allein von 1950 bis 2000 ist der Anteil der Bevölkerung im Alter von 65 Jahren und älter fast kontinuierlich von 9,7% auf 16,7% angestiegen, was in absoluten Zahlen einer Verdoppelung entspricht. Andererseits sank der Anteil der Kinder und Jugendlichen (bis unter 15 Jahren) von 23,2% auf 15,6%. Nach 1975 erfolgte jedoch ein deutlicher Einbruch, in wenigen Jahren verringerte sich der der Anteil der Kinder um rund 20%.
Bevölkerung in Deutschland von 1950 bis 2050 nach Altersklassen
Quelle: Junkernheinrich, Micosatt 2005, S. 58
"Künftig wird die Bevölkerung massiv altern. Der Anteil der Senioren (65 Jahre und älter) wird bis zum Jahr 2050 nach der Variante mit nur 100.000 Zuwanderern pro Jahr auf rund 30% anwachsen. Ihre Zahl wird um 43% steigen, die der 90-jährigen und älteren wird sogar um 200% zunehmen. Hingegen wird die Zahl der Kinder und Jugendlichen auf rd. 11,5% absinken. Absolut bedeutet dies einen weiteren Verlust um rd. 41%. Der Anteil der Erwerbsfähigen wird um 9%-Punkte auf 58,2 zurückgehen, wobei sich eine Verschiebung hin zu den älteren Arbeitnehmern (45 bis unter 65 Jahre) einstellt. Deren absolute Zahl nimmt nur um 18% ab, während die jüngeren Erwerbsfähigen ? genau wie die Zahl der Kinder und Jugendlichen ? um 41% abnehmen werden" (Junkernheinrich, Micosatt 2005, S. 57).
Die Prognose zur Veränderung des Anteils an über 75-Jährigen des Ruhrgebiet im Vergleich zum übrigen Land zeigt die Karte: Auf den ersten Blick mag es überraschen, dass die großen Kernstädte wie Essen Bochum, Duisburg, Herne und Gelsenkirchen vergleichsweise schwache Veränderungsquoten aufweisen, die Randkreise wie Unna, Wese und Recklinghausen dagegen deutlich stärkere: erklärlich ist dieses Phänomen dadurch, dass hier der (Über-) Alterungsprozess schon weit fortgeschritten ist, während der jüngere Durchschnitt in den suburbanen und weiter entfernt liegenden Gemeinden den Alterungsprozess noch vor sich hat.

Exkurs: Fertilität der Akademiker an Hochschulen

Vieles spricht für die These, dass sich [Bildungs-] Armut / Bildungsferne mit hoher Wahrscheinlichkeit über mangelnde Bildungschancen vererbt (Strohmeier, Bader 2004). Am anderen Ende des Spektrums der hohen und höchsten Bildungschancen finden sich Hinweise mit umgekehrten Vorzeichen: Wissensarbeiter/innen "enterben" die nächste Generation, indem ihr Kinderwunsch - durchaus rational - nicht nur hinausgeschoben, sondern realisiert wird.

Ohne Zweifel ist diese Sicht auf "Ursachen" des Demografischen Wandels unvollständig. Die Gründe für den Geburtenrückgang sind vielfältiger. Sie reichen über arbeitsweltlich bestimmte Lebenslagen hinaus, von der "Steuerbarkeit der Schwangerschaften über veränderte Lebensentwürfe, in denen der Kinderwunsch und Kinder nicht mehr den früheren Stellenwert haben und hohe Kindererziehungskosten bis zur Angst vor der Zukunft oder zumindest der persönlichen Unsicherheit vieler Menschen über die eigene Zukunft" (Bauer 2006, S.14; vgl. ausführlich auch Lesthaeghe 1992).

Im Ergebnis könnte es zu einer doppelten sozio-ökonomischen Erblast kommen, die die Chancen auf wettbewerbsfähige Standortqualität der wissensbasierten High End-Economy - sie wird fast ausschließlich in Metropolen vorgefunden - aufzehrt.

Zwei Thesen drängen sich auf:
(a ) Wissensökonomie in ihrer gegenwärtigen, stadtgesellschaftlich unausgereiften Form vernutzt im Vergleich zur Industriegesellschaft möglicherweise weniger Umweltgüter, umso mehr aber ihre sozialen, arbeitsmarktbezogenen Grundlagen;

(b ) Eine Kongruenzbewegung zwischen (Bildungs-, Wirtschafts-, Stadt-) Politiken der Wissensökonomie und Politiken einer postindustriellen Stadtgesellschaft ist noch nicht in Sicht.

Dabei sind neue, noch weitgehend unbeachtete und unbekannte Herausforderungen an eine zukunftsfeste Stadt, wie sie durch den Klimawandel entstehen, noch nicht beachtet.

Die Bevölkerung wird "bunter"

Die Bevölkerung wird 'bunter'
Quelle: RVR-Fotoarchiv (Krah)
Türkische Nutzgärten
Quelle: RVR-Fotoarchiv (Liedtke)
Gerade für das Ruhrgebiet ? wie alle Industrieregionen eine Einwanderungsregion ? (vgl. Thema "Bevölkerung und Arbeit") erweist sich noch ein dritter wesentlicher Faktor bedeutsam für die Bevölkerungsentwicklung: In den vorangehenden Jahrzehnten wanderten mehr Menschen aus dem Ausland ein als dorthin aus. Oft wurden die Familien der Arbeitswanderer nachgeholt. Gerade in den Familien mit Migrationshintergrund dominiert jedoch eine deutlich höhere Geburtenrate: Sie bekommen mehr Kinder und sind insgesamt jünger, was in eingeschränktem Umfang die geringe Geburtenfreudigkeit der Deutschen mildert. Selbst bei nachlassendem (Außen-)Wanderungssaldo steigt also die Zahl der Personen mit Migrationshintergrund. Die Bevölkerung des Ruhrgebietes wird ethnisch heterogener, "bunter". Verstärkt wird diese Tendenz noch durch den Schub der Aussiedler (u.a. der Russlanddeutschen) seit Ende der 1980er bis Anfang der 1990er Jahre.
Wanderungsbilanz nach Zonen
Quelle: Grüber-Töpfer, Kamp-Murböck, Mielke 2007, S. 10
Ausländer nach Nationalitäten im Ruhrgebiet 2005
Quelle: www.rvr-online.de
Altersaufbau der deutschen und nichtdeutschen Bevölkerung in NRW im Vergleich.
Quelle: Strohmeier / Bader 2004, S. 53
Der Vergleich des Altersaufbaus zwischen Deutschen und der Bevölkerung mit Migrationshintergrund lässt erkennen, dass letztere einen deutlichen Überbesatz in den unteren, besonders dem jüngeren Erwerbsalter zugehörigen Altersklassen aufweisen. Wegen höherer Geburtenziffern ist zugleich die Wachstumsdynamik der Bevölkerung mit Migrationshintergrund trotz eines fast ausgeglichenen, also nahe Null liegenden Wanderungssaldos, deutlich höher. Es wird prognostiziert, dass manche Stadtteile bereits in einigen Jahren, aber auch beispielsweise die Gesamtstadt Duisburg, in etwa eineinhalb Generationen - in den 2040er Jahren - eine Bevölkerungsmehrheit mit Migrationshintergrund aufweisen werden.

Wertewandel und Kinderwunsch

Bedeutsam erscheint im Zusammenhang mit dem "Zweiten Demografischen Übergang" ein weiteres Argument: Die wesentlichen Bestimmungsfaktoren des Demografischen Wandels dieser natürlichen Bevölkerungskomponenten dürften sich der politischen Beeinflussbarkeit allgemein, mindestens aber der kurzfristigen, weitgehend entziehen. Ob die soziale Akzeptanz und Integration im Muster des "ethnischen Schmelztiegels" von einst erneut gelingt und ob zudem Umfang und Qualität des Arbeitsmarktes ausreichen werden, ist nicht erkennbar.

Lesthaeghe (1992) weist darauf hin, dass der geminderte Kinderwunsch neben ökonomischen Faktoren auf einen säkularen Trend gewandelter Wertvorstellungen zurückzuführen ist, wobei Individualisierung, Autonomie, Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern und Selbstbestimmung eine entscheidende Stärkung erfahren haben.

Während der Geburtenrückgang des "Ersten Demografischen Wandels" auf Leitwerte der Verbürgerlichung zurückzuführen ist, in denen der Wunsch der Eltern nach verbesserten Lebensbedingungen für das Kind dominiert hatte, geht der Geburtenrückgang der 1960er und 1970er Jahre, der die Phase des Zweiten Demografischen Wandels einleitet, auf eine ganz andere Werthaltung zurück: Nicht mehr das "Kind ist König", sondern das Individuum. Dieser Trend ist zunächst verbunden mit der Suche nach Qualität in der Zweierbeziehung, beruht aber auch auf dem Wunsch nach zunehmender wirtschaftlicher Unabhängigkeit und selbstbestimmten Karrierewünschen der Frau (u. a. Anstieg der kinderlosen Ehepaare, "Double Income No Kids": Dinks).

Eine Individualisierung bzw. Pluralisierung der Lebensentwürfe ist die Folge, was in der Regel eine Favorisierung innenstadtnaher, hochwertiger Wohnlagen mit sich bringt, wo bedarfsgerechte Angebote haushaltsnaher und freizeitorientierter Dienstleistungen dichter sind als in "Suburbia". Die beruflichen Rahmenbedingungen erfordern zudem hohe, räumlich wie arbeitszeitlich flexible Einsatz- und Mobilitätsbereitschaft. Kinderwunsch und partnerschaftliche Bindung gerade des hochqualifizierten "Humankapitals" dürften unter diesen Bedingungen weiter erodieren (u. a. Zunahme der Einpersonen-Haushalte / "Singles").
Altersspezifische Geburtenziffern in NRW in den Jahren 1961 und 2002
Quelle: LDS 2005, S. 16
Eheschließungen und Kinderwunsch werden verschoben, die Geburtenhäufigkeit sinkt (Lesthaeghe 1992, S. 315ff). Die späteren und geringeren Zahlen der Geburten belegen das. Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile prägen diese Werthaltung. Die "Singularisierung" findet in der wohnungswirtschaftlich relevanten zunehmenden Anzahl der Einpersonen-Haushalte ihren Ausdruck. Jedoch muss hier auch die wachsende Zahl der "zwangsweisen" Lebensformen der alleinstehenden Alten und Alleinerziehenden einbezogen werden.

Seit den 1970er Jahren liegt die Geburtenrate in Deutschland nämlich um ein Drittel unterhalb des Niveaus, das zur Erhaltung des Bevölkerungsstands erforderlich ist. Jede Generation bringt bei diesem Status-Quo ein Drittel weniger potenzielle Eltern hervor (Bauer 2006, S.12). Wenn angesichts einer für die Bestandserhaltung notwendigen Fruchtbarkeitsziffer von 2,1 Kindern pro Frau nur eine reale von 1,37 im Westen und 1,30 im Osten Deutschlands gegenübersteht, wird die These verständlich, dass selbst erheblich gesteigerte Zuwanderungsraten aus dem Ausland und eine sehr erfolgreiche Familienpolitik, die die Fruchtbarkeitsraten stark erhöhen würde, diesen Trend allenfalls abschwächen, nicht aber umkehren könnte.