Demografischer Wandel und Stadtentwicklung

Bevölkerungsentwicklung in den Kreisen NRWs 1975 bis 2005
Quelle: ILS 2007, S. 10
Für die Stadtentwicklung im Ruhrgebiet ist entscheidend, dass die drei demografischen Trends "weniger, älter, bunter" räumlich sehr unterschiedlich verteilt sind, wie die differenzierte Verteilungskarte Nordrhein-Westfalens belegt .
Verteilung der relativen Zu- u. Abnahme der Bevölkerung in NRW 2005 bis 2025
Quelle: LDS 2006, S. 11
Größte Verluste entstehen vor allem in den Kernstädten des Ruhrgebietes, etwa in Essen, Herne, Gelsenkirchen, Mülheim an der Ruhr, Duisburg. Bochum und Dortmund nehmen mit annähernd stagnierenden Bevölkerungszahlen eine Ausnahmestellung ein. Die suburbanen Randbereiche des Ruhrgebietes weisen dagegen deutlich positive und viele der auswärts angrenzenden Gemeinden höchste Wachstumsraten auf.

Das Bild setzt sich in den Prognosen 2005 bis 2025 fort. In den Randzonen Nordrhein-Westfalens sind die höchsten, in den Kernbereichen des Ruhrgebietes, aber auch in den Kreisen des Mittelgebirges dagegen die niedrigsten (negativen) Wachstumsraten zu finden. Auffällig ist das hohe Wachstum der Randbereiche (Kleve, Paderborn und des südwestlichen Rheinlands (Köln, Bonn und Aachen mit angrenzenden Kreisen. Hier zeigen sich geradezu entgegengesetzte Differenzierungen des Bevölkerungswachstums zwischen den altindustrialisierten Kernstädten des polyzentrisch strukturierten Ruhrgebietes und den stärker wissenswirtschaftlich dominierten Solitärzentren Westfalens und des Rheinlandes.

Dieses Bild fügt sich ein in die prognostizierten Wirkungsmuster des Demografischen Wandels auf nationaler Eben (s. o.). Das bereits vorhandene West - Ost - Gefälle des Bevölkerungswachstums dehnt sich flächenmäßig aus. Die großstädtischen Wachstumsregionen, voran das Ruhrgebiet, kontrahieren, bis nur noch einzelne Wachstumsinseln - vornehmlich im erweiterten Umland großer Zentren - übrig bleiben.

Das Verteilungsmuster des Bevölkerungswachstums zeigt also ein deutliches Rand-Kerngefälle, einen "Trichter" mit vergleichsweise hohen Schrumpfungszahlen im Kern. Dieser kernstädtische "Desurbanisierungsprozess" ist z. T. verursacht durch einen nach wie vor andauernden, wenn auch abebbenden bzw. in den nächsten Jahren wohl auslaufenden "Suburbanisierungsprozess", also stadtregionalen Wanderungsprozess.

In immer mehr westdeutschen Kommunen bereiten der Leerstand von Wohn- und Gewerbeimmobilien sowie die zögerliche Nachfrage der Investoren nach ungenutzten Gewerbe- und Verkehrsbrachen Schwierigkeiten (Piniek, Prey 2005, S. 156 f). Besonders im Ruhrgebiet liegen wachsende und schrumpfende Stadtteile, großflächige Revitalisierungsprojekte und Problemquartiere oft in unmittelbarer Nachbarschaft.
Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Stadtentwicklung
Quelle: Piniek, Prey 2005, S. 156
Die Ursachen der verebbenden Suburbanisierung sind demografisch vorgezeichnet: Die typischen "Suburbaniten", junge Familien des Mittelstandes, haben einerseits (wanderungs- und geburtenbedingt) zahlenmäßig stark abgenommen und ziehen andererseits kernstädtische Wohnlagen mit ihren kürzeren Wegen oft dann vor, wenn die Boden- und Mietpreise sowie anspruchsgerechte Qualität es zulassen. Vor diesem Hintergrund werden z.B. auf innenstadtnahen Brachflächen, aber auch durch Abriss bzw. Umbau von Altwohnungsbeständen wieder mehr Eigentumswohnungen, attraktive Mietwohnungen, teilweise sogar auch Eigenheime oder Doppelhäuser gebaut. Sie entsprechen dem Bedarf an urbanen Lebensstilen und Wohnlagen, stärken somit also die Tendenz zur "Reurbanisierung". Die gegenüber zuzugsstarken Stadtregionen vergleichsweise günstigen Bodenpreise eines entlasteten Wohnungsmarktes, nicht zuletzt auch die aktuellen Planungskonzepte für die reichlich vorhandenen oft innenstadtnahen Brachflächen fördern diesen Trend.

Gerade in den Kernstädten des Ruhrgebietes entstehen in neuen Konzepten der durchmischten Nutzung attraktive Wohngebiete, durchsetzt von Büros, nicht störendem, mittelständischem Gewerbe, Dienstleistungen. Freiräume mit Wald, Park und Wasser schaffen hochwertige Standortqualität.

Eher kernstädtische Wohnpräferenzen können auch von der stark zunehmenden Zahl der (noch) suburban wohnenden Senioren erwartet werden. Zu vermuten ist, dass ein Teil von ihnen dann, wenn die Kinder ausgezogen sind ("Empty Nest"-Lebens- / Wohnsituation), das dichtere Netz der Verkehrs- und Versorgungsdienste, medizinischen Einrichtungen, der Pflegedienste, altengerechten Unterhaltungs-, Kontakt- sowie Freizeitangebote in der Kernstadt favorisieren könnten. Der zu beobachtende Fortzug der Jüngeren, die Bevölkerungsabnahme und der u. U. gemilderte Überalterungsprozess dürften daher mit zeitlicher Verzögerung auch den suburbanen "Speckgürtel" erfassen.

So scheint sich auf den ersten Blick das Modell des Verstädterungsprozesses zu bestätigen.
Modell Urbanisierung /Suburbanisierung
Quelle: Brunotte, Gebhardt, Meurer 2001, S. 264
Das Bevölkerungswachstum des ersten "Demografischen Übergangs" führte im Zusammenhang mit der Industrialisierung zu Urbanisierung und anschließender Suburbanisierung. Dazu zählen zumeist auch die randstädtisch errichteten "Großwohnsiedlungen" der 1960er und 1970er Jahre (z.B. Dortmund-Clarenberg , vgl. "Thema Wohnen und Bauen"), auch die "Neue Stadt Wulfen" oder neue Vorstädte wie Dortmund-Scharnhorst).
Die haushaltsnahen Dienstleistungen ziehen der Bevölkerung in die Vororte nach, befördern und stabilisieren den Suburbanisierungsprozess. Die Kernstädte verlieren Bevölkerung besonders in den weniger attraktiven Lagen (Miet-Reihenhäuser, Wohntürme, Arbeitersiedlungen in der Nähe der brachgefallenen Zechen- und Stahlwerksflächen). Hier rücken bevorzugt Migrantenfamilien nach, da die Mietpreise günstig und die sozialen Kontakte zu den hier bereits wohnenden Landsleuten attraktiv sind. Nicht selten reagieren deutsche Einwohner, wann immer sie es sich leisten können, mit Fortzug aus dem Quartier. Die ältere und/oder ärmere Bevölkerung (z.B. Alleinerziehende, Arbeitslose) wird eher am Ort bleiben (müssen). Dadurch erhält der Prozess der sozialen Segegration Selbstverstärkungstendenzen, benachteiligte Problemquartiere entstehen.
Der Ruhrpark
Quelle: RVR-Fotoarchiv
Auch nicht haushaltsbezogene Arbeitsstätten haben oft die teuren, kernstädtischen Standorte verlassen, die zudem in der Regel unzureichende Flächenreserven für betriebliche Erweiterungsbedarfe bieten. Die Suburbanisierung erfuhr weitere Verstärkung durch dezentral angesiedelte Einkaufs- und Technologiezentren, Gewerbeparks, Kultur- und Freizeiteinrichtungen, Themenzentren (z. B. Baumärkte, Möbel-, Autohäuser, Gartenzentren) "auf der grünen Wiese".

Dieser Trend zur An- und Umsiedlung auf zwischenstädtische oder im Umland gelegene Standorte der "grünen Wiese" wurde (und wird) gerade im Ruhrgebiet unterstützt durch die Hinterlassenschaften des technologisch-wirtschaftlichen Wandels: Erreichbarkeit und Durchlässigkeit, Wohnwert, Standortgunst und Image werden erheblich behindert durch die für altindustrialisierte Städte typischen und langlebigen Barrieren der zumeist auf die Belange der Produktionsstätten bezogenen Werksinfrastruktur. Zufahrts- und Erschließungsstraßen, Kanäle / Häfen, Werksbahnen / Bahndämme, Hochspannungsleitungen, Pipelines und ummauerte (ehemalige) Betriebgelände behindern die Durchlässigkeit und verstärken die Isolierung in funktional, gestalterisch und nach Standort- / Wohnwert stark differenzierte Zellen. Die durch die Montanindustrie wirtschaftshistorisch vorgegebene stadträumliche Fragmentierung zergliedert die Stadtgestalt dysfunktional in relativ isolierte Quartiere, die in ihrer Lebensqualität, in Wohn-, Freizeit- und ökonomischem Nutzwert sehr unterschiedliche Eignungspotenziale und Qualitätsmerkmale aufweisen. Der Reurbanisierung könnten dadurch gewisse Grenzen gesetzt werden, da der Umbau des Wohnungsbestands wesentlich von der Qualität des Wohnumfelds abhängt.

Der "Zweite Demografische Übergang" jedoch setzt mit seiner Schrumpfungsdynamik und den räumlichen Verteilungsmustern neue Zeichen: Zwar werden Reurbanisierungstendenzen eintreten, diese dürften jedoch für die Kernstädte der Hellweg- und Emscher-Städtereihe insgesamt bescheiden ausfallen und deren Verluste nicht kompensieren. Zudem werden vergleichbare Strategien des Stadtumbaus auch von den kleineren Zentren des Umlands verfolgt (s. u. Beispiel Herten). Dem Muster der polyzentrischen Städteregion folgend, wird eine Tendenz zur "dezentralen Konzentration" zu erwarten sein. Diese dürfte allerdings vom Christallerschen Zentrenmodell der alten industriegesellschaftlichen Stadt abweichen.

Jüngere Untersuchungen lassen die These zu, dass sich am Rand des Ruhrgebietes eine neue Stadtform entfaltet, die "Netzstadt". Die Aktionsräume der "Suburbaniten" - sie bilden sich aus den mehr oder weniger täglichen Fahrten zwischen den Standorten der Daseinsgrundfunktionen Wohnen, Arbeit, Versorgung, Bildung, des Freizeitverhaltens und Gemeinschaftslebens - scheinen sich zunehmend weniger zentral, also auf die Kenstädte, zu richten als vielmehr auf die dispers verteilten, teils funktionsspezialisierten Orte im (erweiterten) suburbanen Raum des Ruhrgebietes: Die Verkehrsströme entfalten eine tangentiales Muster innerhalb der suburbanen, ringförmig um das Kern-Ruhrgebiet herum gelagerten Zone.

Mit Ausnahme der nach wie vor auf die Innenstadt gerichteten (sich mindernden?) Büro-/Verwaltungsdienstleistungen werden Tendenzen zu einer autonomen, von den Kernstädten bzw. Innenstädten weitgehend unabhängigen Post-Suburbia erkennbar. Überzeichnend ausgedrückt fuhr man früher (bis in die 1970er Jahre) am Wochenende aus der Stadt heraus "ins Grüne", während die Suburbaniten heute, durchaus nicht regelmäßig, am Wochenende in die Stadt zu Einkauf, Discobesuch, Theater, Konzert, Kino usw. fahren. Sieht man von den Theatern und Konzerthäusern ab, so ist allerdings gerade auch in diesen Funktionsstätten den Innenstädten starke Konkurrenz in Suburbia entstanden. Die Netzstadt entfaltet sich als "Funktionseinheit" von gut verbundenen, arbeitsteilig organisierten Kleinzentren / Standorten, die in der Summe, dem Netz, fast alle wesentlichen Funktionen der alten (Innen-) Städte bieten.
Quelle: Autorenteam
Durch die Reurbanisierung dürfte die Schrumpfung der Kernstädte zwar gemildert, nicht aber aufgehalten werden können. Hier werden die Grenzen des obigen Modells zur Urbanisierung, Sub- und Reurbanisierung deutlich. Es erscheint für das Ruhrgebiet und im Rahmen des "Zweiten Demografischen Übergangs" aus dreifachem Grund nicht passfähig: Weder sind die Strukturen der polyzentrischen Region noch die Prozesse der Bevölkerungsschrumpfung modelliert; Tendenzen zur "post-suburbanen Netzstadt" sind nicht vorgesehen.

Der "Zweite Demografische Übergang" zeichnet sich im Ruhrgebiet durch die Merkmale "weniger", "älter" und "bunter" und durch ein sehr heterogenes räumliches Verteilungsmuster dieser Merkmale aus. Die Auswirkungen der Schrumpfung auf nahezu alle gesellschaftlichen und politischen Bereiche der Ruhrgebietsstädte sind gravierend. Das gilt auch für Post-Suburbia. Daher erscheint es geboten, bereits heute auch in Städten und Quartieren, die noch nicht vom Schrumpfungsprozess erfasst sind, präventive Maßnahmen zu entwickeln, um einem (selektiven) Einwohnerverlust entgegenzuwirken (Piniek, Prey 2005, S. 156).