Vertiefung: Entwicklung von Stadtteilzentren: Gelsenkirchen-Bismarck

Bereits im Jahr 1993 hatte Nordrhein-Westfalen ein integriertes Handlungsprogramm "Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf" aufgelegt. Ziel war es, die Lebenssituationen der in den Stadtteilen wohnenden Menschen zu verbessern, "schwierige" Stadtteile zu stabilisieren und so soziale Brüche in den Städten zu verhindern. Dabei galt ein besonderes Augenmerk der umfassenden Beteiligung und vor allem Aktivierung der Bewohner sowie aller Akteure in den Stadtteilen (MASSKS 2000, S. 5).
Der Anspruch des integrierten Handlungsprogramms wird deutlich an der Kombination von Maßnahmen:
  • zur Qualifizierung und Beschäftigung,
  • des Wohnungsbaus,
  • der lokalen Wirtschaftsförderung,
  • der Gesundheitsförderung und
  • der Kinder- und Jugendpolitik.
Nach ausgesprochen positiver Zwischenbilanz des nordrhein-westfälischen Programms hat im Jahr 1999 die Bundesregierung beschlossen, ein eigenständiges Programm "Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf - die soziale Stadt" im Rahmen der Städtebauförderung aufzulegen.

Im Jahr 2000 wurde das Bergwerk Hugo/Consolidation in Gelsenkirchen-Bismarck stillgelegt. Damit sah sich der Stadtteil vor eine typische Situation gestellt: Der Bergbau ist gegangen, die Menschen aber sind geblieben. Dem Stadtteil ist die Zeche, die Lebensader genommen. Selbst wenn es sich bei derartigen Stilllegungen in der Regel um einen "sozialverträglichen Abbau" handelte - dank der geflossenen Kohle-Subventionen - , also z.B. um Vorruhestandsregelungen oder Umsetzungen auf andere Bergwerke: Der Stadtteil verliert wesentliche Anteile seiner Kaufkraft, seiner jüngeren Arbeitskräfte und Haushalte, seiner Familien mit Kindern. Der Verlust betrifft auch seine ehemals durch den Bergbau geprägte nachbarschaftliche Solidarität und Lebensform, seine räumliche und identifikatorische Mitte.


GGS: Gemeinschaftsgrundschule; RealS: Realschule; 1. BA: 1. Bauabschnitt; KGS: Katholische Grundschule
Das Projektgebiet Gelsenkirchen Bismarck
Quelle: Stadt Gelsenkirchen

Zurück bleiben zunächst die Alten, wohl auch im Muster der selektiven Abwanderung die immobilen, eher gering ausgebildeten Menschen. Die leeren Wohnungen werden nicht instand gesetzt, Wohnwert und Viertel-Image sinken, Neuerungs- und Investitionsstau sind die Folge. Nach und nach ziehen weniger begüterte Mieter, z.B. Alleinerziehende, Arbeitslose und Ausländer ein. Nicht selten leben viele große Familien in viel zu kleinen Wohnungen. Angesichts leerer kommunaler Kassen gerät der Stadtteil in den Sog eines Circulus vitiosus, eines sich selbst verstärkenden Verfalls (s. Thema "Bevölkerung und Arbeit"). Das "integrierte Handlungskonzept" will dieser typischen Gefahr in derartigen "Stadtteilen mit besonderem Erneuerungsbedarf" entgegentreten.
Siedlung mit "Herz" - Siedlung ohne "Herz"
Quelle: Stadt Gelsenkirchen
Im Stadtteil Gelsenkirchen-Bismarck leben etwa 16.000 Einwohner, davon 3.400 Ausländer überwiegend türkischer Nationalität. Mit der Stilllegung des Bergwerkes entstand ein Verlust von 4.000 Arbeitsplätzen. Die umgebenden Bergarbeiter-Siedlungen verloren ihre Funktion ebenso wie die Infrastruktureinrichtungen rund um die Zeche, z.B. die Bergbau-Berufsschule, das Gesundheitshaus, die Zechenbahn. Die Arbeitslosigkeit stieg zeitweise auf über 20 %, besonders betroffen waren die Jugendlichen.

Da als identitätsstiftende Struktur heute nicht mehr der Bergbau herhalten kann, galt es zunächst neue Akteure, die lokalen Schulen, Vereine und Bürgerschaftsgruppen, in dieser Funktion aufzubauen: Hier sind inzwischen etwa 4.000 Menschen organisiert (MASSKS 2000, S. 12).

Dem vielfältigen Problemgeflecht können nur angemessen komplexe und vernetzte Maßnahmenpakete entsprechen: Daher werden in dem maßgeschneiderten Stadtteil-Programm die Handlungsfelder der baulichen Erneuerung, lokalen Ökonomie, Beschäftigungs- und Qualifikationsförderung, Ausländer-Integration, Migrantenarbeit, Gesundheitsvorsorge, Gemeinwesen- und Jugendarbeit, Schule und Stadtteil, Lokalgeschichte und Soziokultur entwickelt und miteinander verknüpft.

Eine besondere Funktion übernimmt hierbei die neue Evangelische Gesamtschule Bismarck. Als ökologisch und stadtteiloffen ausgerichtetes Kernelement ist sie Hoffnungsträger für einen sozialen Neubeginn mit vermehrten Bildungschancen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene des Stadtteils. Die Schule soll ein der ökologisch orientierten Nachhaltigkeit verpflichteter Lernort sein, zugleich kulturelles Zentrum des Stadtteils sowie einen Beitrag zur multikulturellen Erziehung und Integration leisten. Daher gehören zur Schule auch ein Bürger-Begegnungszentrum, ein Bürgerbüro und Räume für soziale Dienste. 24 ehemals arbeitslose Frauen aus dem Stadtteil betreiben die Mensa und Cafeteria der Schule, weitere Arbeitsplätze sind im Reinigungswesen der Schule geschaffen worden.
  • MASSKS/Ministerium für Arbeit, Soziales und Stadtentwicklung, Kultur und Sport (Hrsg.) (2000): Quergedacht - Selbstgemacht. Integrierte Handlungsansätze in Stadtteilen mit besonderem Erneuerungsbedarf. Dokumentation zur Veranstaltung am 21. Oktober 1999 in Köln-Kalk. Düsseldorf: MASSKS