Auswirkung des demographischen Wandels

Seit 2004 beteiligen sich die Städte Bochum, Essen und Gelsenkirchen an einem bundesweiten Wettbewerb zum Thema "Infrastruktur und demographischer Wandel". Unter der Federführung des RVR haben die Städte innovative Lösungsansätze für die Anpassung der kommunalen Infrastruktur and den demographischen Wandel erarbeitet (Internet 1).

Auch das Gutachten "Kommunale Daseinsvorsorge im Ruhrgebiet bei rückläufiger Bevölkerung" (Junkernheinrich / Micosatt 2005) widmet sich diesem Thema. U. a. aufgrund der zunehmenden Ausgabenpositionen im Sozialbereich wird es zu deutlichen Steigerungen kommen. Aufgrund des Bevölkerungsrückgangs hat man für die Gemeindefinanzen der kreisfreien Städte des Ruhrgebietes bis 2015 eine zusätzliche Belastung von jährlich 670 Mio. Euro berechnet, falls eine Gegensteuerung (z.B. ein Aufhalten des Rückgangs; Entlastung von bund- und länderseitig vorgegebenen Aufgaben, positive Haushaltsentwicklungen der Kommunen) nicht gelingt. Es wird "zu einer Einschränkungen der kommunalen Daseinsvorsorge kommen müssen" und weiter wird festgestellt: "Ohne eine Entlastung bei den Aufgaben werden die Ruhrgebietsstädte den demographischen Wandel nicht bewältigen können." (Junkernheinrich / Micosatt 2005, S. 14)

Unter den Folgen des des demografischen Wandels wird besonders auch der Arbeitsmarkt angesprochen:

"Gelingt es nicht die Zahl der Arbeitsplätze zu erhöhen und die Arbeitslosigkeit abzubauen, wird der natürliche Bevölkerungsrückgang durch Abwanderung aus der Region verstärkt. Zurück bleiben dann vor allem in den Kernstädten des Ruhrgebiets die Verlierer des Strukturwandels. Es droht eine soziale Abwärtsentwicklung, die den wirtschaftlichen Abwärtstrend noch verstärkt und zu einer Abwärtsspirale führt." (Junkernheinrich / Micosatt 2005, S. 13 und Link 4)
Neben Herausforderungen der Familienförderung, Integrationspolitik, Stadterneuerung und regionaler Siedlungspolitik sowie der Bund-Länder-Verantwortung weisen die Autoren auf eine neue Qualität der gesellschaftlichen Verantwortung hin:

"Eine Gesellschaft, in der die eigenen Bestandserhaltung in Frage gestellt ist, braucht eine breite Diskussion um die Ziele und Werte der individuellen Existenz:
  • Welche Wertvorstellungen, Ziele und Lebensinhalte habe ich? (Individualbezug)
  • In welcher Verantwortung stehe ich zu anderen? (Kollektivbezug)
  • Was kommt nach mir? (Zeitbezug)" (Spiegelpunkte hinzugefügt von Butzin; Junkernheinrich / Micosatt 2005, S. 17 und Internet 4)


Sowohl Umwelt als auch Bestandserhaltung der Gesellschaft sind um die Jahrtausendwende in die Krise geraten bzw. - mit viel früheren historischen Wurzeln - als solche wahrgenommen worden. Zu ergänzen sind ab Ende 2008 die Jahre der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise.

"Es müssen folglich zentrale Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung gelöst werden. Dabei gilt es vermutlich Abschied zu nehmen von der Vorstellung eines permanenten quantitativen Wachstums, das mehr Geld bei weniger Arbeit verhieß. Stattdessen bedarf es eines Vertrauens darin, dass gesellschaftlicher Wandel und Familienbildung mit Kindern nicht individuellen sozialen Abstieg zur Folge haben muss." (Junkernheinrich / Micosatt 2005, S. 17 und Internet 4)

Eine weitere Studie "Wohnbaupotenziale im Ruhrgebiet" fragt nach der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung an Wohngebieten, die teils noch auf die Flächennutzungspläne der 1970er und 1980er Jahre zurückgeht. Besonders Gemeinden des östlichen Ruhrgebiets (Hamm, Kreis Unna, aber auch Hagen, Ennepe-Ruhr-Kreis) weisen hier ein starkes Missverhältnis zwischen Bevölkerungsprognosen und ausgewiesenen Wohnflächen auf (Internet 3). Hier ist trotz des bereits angesprochenen Paradoxons relativ zunehmender Wohnbaunachfrage bei sinkender Bevölkerung ein erheblicher Umsteuerungsbedarf erkennbar.

Auf der anderen Seite werden auch Chancen im demografischen Wandel gesehen und beplant: Das Ruhrgebiet will sich zu einer führenden deutschen "Modellregion für Gesundheitswirtschaft" entwickeln. Die Gemeinschaftsinitiative "MedEcon Ruhr" hat sich zum Ziel gesetzt, die Potenziale der Gesundheitswirtschaft - u. a. durch eine Stärkung der innerregionalen Wertschöpfungsketten und die Verknüpfung mit intensivierter Forschung und Entwicklung - zu aktivieren. Gesundheitsförderung, Prävention, alternative Therapieverfahren und Wellness sowie Seniorenwirtschaft spielen dabei eine dominante Rolle (Internet 5 und 6).
Der Standort Bochum ist dabei sich zu einer nationalen Spitzenadresse für Life Science zu entwickeln. Seit 2008 entsteht auf dem Campus der Ruhr-Universität Bochum ein "BiomedizinPark-Ruhr" und das "BioMedizinZentrum-Ruhr" (BMZ). Das BMZ bietet sowohl Unternehmen und Gründern der Medizintechnik und Biomedizin Räumlichkeiten sowie Ausstattung für Forschungs- und Entwicklungsprojekte, Produkte und Dienstleistungen. Zugleich fungierte es sowohl als Naht- und Kontaktstelle für Kooperationen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft als auch dem Wissens- und Technologietransfer mit Firmengründungen und der Entwicklung marktfähiger Produkte. Der BiomedizinPark ist Teil eines umfassenden Projekts "medlands.RUHR" / "Burg über dem Ruhrtal", das innovative Wissenschaft mit der landschaftliche reizvollem Ruhrtal verbinden soll und Das Technologie-Quartier, die Hochschule Bochum (ehemals Fachhochschule), die Ruhr-Universität Bochum, hier besonders das Zentrum für Klinische Forschung, das Technologiezentrum, das Biomedizin-Zentrum und das Zentrum für Werkstoffsimulation (ICAMS) umfasst (Internet 8).

Ein weiterer Schwerpunkt, mit dem das Ruhrgebiet auf die Herausforderungen des demografischen Wandels reagiert, ist die Seniorenwirtschaft. Hier beteiligt sich das Ruhrgebiet an der Initiative der Weltgesundheits-Organisation WHO "Age-friendly City". An diesem Projekt nehmen das Ruhrgebiet als einzige deutsche Stadt und weitere 32 Städte aus 22 Ländern teil (Internet 7).

Zur Entfaltung der Seniorenwirtschaft werden kommunale Gesundheitskonferenzen einberufen, die in enger Kooperation mit den ansässigen Senioren, der Wirtschaftsförderung, den Wohnungsgesellschaften, einschlägigen Unternehmen und Dienstleistern der Gesundheits-, Sport- und Fitnessbranche sowie dem Land NRW gemeinsame Konzepte erarbeiten.

Schwerpunkte bilden dabei besondere altengerecht, geschlechtsspezifisch und an Menschen mit Migrationshintergrund orientierte Ausprägungen der Themenfelder (Internet 7):
  • Wohnen und haushaltsnahe Dienstleistungen
  • Bildung und Kultur
  • Integration und Partizipation.


Die Seniorenwirtschaft zeichnet sich durch einen ökonomischen Querschnittscharakter aus, der unterschiedlichste Märkte umfasst: Wohnen, Tourismus, Kosmetik, Gesundheit und Wellness, Nahrungs- und Genussmittel, Freizeit und Unterhaltung, Bildung, Medien, Finanzdienstleistungen, selbst Arbeitsmärkte wie z. B. Beratertätigkeiten als Senior-Coaches / Business Angels bei Gründungsinitiativen. Da viele Senioren einen Umzug ins Altenheim möglichst lange vermeiden möchten, entstehen besondere Bedarfe an Dienstleistungen und Gütern im Bereich der eigenen Wohnung.

Alle diese Marktsegmente beruhen auf der systematischen Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse und Wünsche der über 55 Jahre alten Menschen. Somit kann die demografische Entwicklung auch für ein "problemlösendes Wachstum" genutzt werden, also für innovative Geschäftsfelder, in denen Wachstumspotenziale und Arbeitsplätze durch die Lösung z.B. ökologischer oder sozialer Probleme geschaffen werden können (Lehner 2006, S. 211). Haushalte der älteren Generation (50+ Jahre) z. B. besitzen einen höheren Ausstattungsgrad, daher werden derartige, aber auch andere altersspezifische Nachfragefelder eher geringer. Die Altergruppe "50+" verausgabt jedoch ein ähnlich hohes frei verfügbares Gesamteinkommen wie die Altersgruppe der 20 bis 49jährigen. Dabei lassen sich weitaus mehr Ausgaben für Dienstleistungen und Verbrauchsgüter beobachten als in den jüngeren Altersgruppen, in denen Investitionen (Auto, Haus, Bildung - auch der Kinder) dominieren. Lehner sieht daher einen generellen "Mismatch" zwischen Angeboten von und Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen für Senioren, was verstärkt für das Ruhrgebiet gilt und somit hier besondere Chancen birgt (Lehner 2006, S. 212f).