Phase 1 (1966 - 1974): Integrierte Strukturpolitik

Schon wenige Jahre nach der ersten Kohlenkrise erkannten Bund und Land, dass es sich dabei nicht um eine konjunkturelle, d.h. eine nach wenigen Jahren vorübergehende Schwäche, sondern um einen strukturellen und langfristigen Umbruch handelt. Ganz im Zeichen von Wiederaufbau-Erfolgen, Vollbeschäftigung und volkswirtschaftlich ungebremsten Wachstums war - auch auf Landesebene - eine Planungseuphorie entstanden, die sich nicht weniger als einen zielgenauen gesamtgesellschaftlichen Umbau zutraute. Das Vertrauen in die staatliche Steuerungskapazität war ungetrübt.

Hatte noch 1966 der damalige Wirtschaftsminister Schiller - vergeblich - eine umfassende Neuindustrialisierung des Ruhrgebietes gefordert, so wurde in der Folgezeit doch deutlich, dass die nicht aufeinander abgestimmten sektoralen Einzelmaßnahmen (z.B. der Kohlepolitik) und Einzelerfolge (z.B. Ansiedlung von Opel 1966 in Bochum) nicht ausreichen können. Das erste Programm einer neuen Ära gelang mit dem "Entwicklungsprogramm Ruhr" (EPR) von 1968: Die Perspektive war auf eine die fachpolitischen und standortbezogenen Planungsansätze integrierende Querschnittsaufgabe, auf Strukturpolitik gerichtet. Sie verstand sich als großräumige, die Gesamtregion Ruhrgebiet umfassende und langfristig orientierte "Integrierte Entwicklungsplanung".
Kleinteilige Zerschneidung durch Bandinfrastruktur (hier am Beispiel Oberhausen)
Quelle: RVR-Luftbildarchiv
Welche Probleme mussten gelöst werden?

(a) Innerregionale Mobilisierung der Arbeitskräfte: Das einsetzende "Zechensterben" verlangte nach einer räumlichen Mobilität der entlassenen Arbeitskräfte: Die Stahlindustrie und ihre Zulieferer, die aufblühenden Dienstleistungen, teils aber auch andere Bergwerkstandorte benötigten Arbeitskräfte. Die Verkehrsinfrastruktur aber war ganz auf die Belange der Montanindustrie und ihren Gütertransport spezialisiert. Nicht Mobilität der Arbeitskraft, sondern Bindung an den Standort war die Maxime.
Ausbauzustand- und Pläne des Schnellstraßennetzes 1974 und heute im Ruhrgebiet
Copyright: IRPUD-Institut für Raumplanung an der TU-Dortmund, www.raumplanung.tu-dortmund.de/irpud
Der Ausbau der Straßen und des öffentlichen Nahverkehrs genossen daher im EPR hohe Priorität. U.a. entstand das orthogonale (Schnell-)Straßennetz. Es bildet bis heute - noch immer nicht fertig ausgebaut - mit den ost-west-verlaufenden Autobahnen A 2, A 42 und A 40 (in Teilen der A 44) das Rückgrat des Ruhrgebietes, während die Nord-Süd-Stränge sowohl im MIV (Motorisierter Individualverkehr) als auch im ÖPNV (Öffentlicher (Schienen-)Personen-Nahverkehr) nur unvollständig ausgebaut sind (A 3, A 52, A 43, A 45) (s. Thema "Verkehr und Logistik").

In diese Zeit fällt die Entscheidung für die Straße, d.h. für die autogerechte Stadt und gegen den Ausbau eines leistungsfähigen öffentlichen Nahverkehrs.
Wohnviertel Dortmund-Scharnhorst
Quelle: Autorenteam
Noch im "Siedlungsschwerpunktprogramm" war das Leitbild einer um ÖPNV-Haltestellen hochverdichteten Wohnsiedlung favorisiert worden. Die Folgen dieses Entwicklungsmodells sind in Vierteln wie Dortmund-Scharnhorst zu beobachten. Wohnungsleerstände und schwache Sozialstrukturen besonders in Hochhäusern lassen Zweifel aufkommen, ob Instrumente einer hohen nahverkehrszentrierten Verdichtung zu einer nachhaltigen Lösung hätten führen können.

So wertvoll die Binnenerschließung durch die Schnellstraßen trotz aller Mängel ist, heute rächt sich die auch hier leitende Tradition der "regionalen Nabelschau": Das neue Europa und erst recht dessen Osterweiterung werden im Zuge immer noch zunehmender Verkehrsaufkommen den Transitverkehr noch stärker anwachsen lassen als den Binnenverkehr. Das Ruhrgebiet großräumig umgehende Transitstraßen aber sind nur in Ansätzen (A 1) vorhanden. Hier fehlt beispielsweise eine funktionierende "Rollende Landstraße" in Ost-West-Richtung (ähnlich dem Lötschbergtunnel in der Schweiz).

(b) Mobilisierung von Boden und Kapital: Mitverantwortlich für den kaum gelingenden sektoralen Strukturwandel des Ruhrgebietes war die zunächst nicht und später sich nur sehr zögerlich einstellende Bereitschaft der Montanindustrie, die frei werdenden Flächen anderen Investoren zur Neu-Industrialisierung bereitzustellen (s. Thema "Hürden des strukturellen Wandels"). Vor allem für Großansiedlungen, wie die standortsuchende Autoindustrie, fehlte es an Flächen.

Die im Programm zur Verfügung gestellten verschiedenen Instrumente zur Flächenmobilisierung (Bürgschaften bei Ankäufen und Bergschadensrisiken, Stilllegungsprämien und Investitionshilfen) (vgl. Wissen 2000, S. 50) reichten aber einerseits nicht aus, andererseits ging mit dem Ende des Nachkriegsbooms auch das Volumen an mobilen und ansiedlungswilligen Unternehmen zurück. Temporäre Ansiedlungserfolge wie Opel, Graetz (später Nokia), Siemens oder Blaupunkt blieben die Ausnahme.
Opel Werk in Bochum
Quelle: RVR-Fotoarchiv (ohne Autor)
Die Landesregierung kam zu dem Schluss, dass die Ansiedlung neuer Betriebe für die erforderlichen neuen Arbeitsplätze nicht ausreicht. "Es hat sich vielmehr als notwendig erwiesen, das Schwergewicht der Wirtschaftspolitik des Landes auf die Stärken der Wettbewerbsfähigkeit der einheimischen Betriebe zu legen" (Wissen 2000, S. 51). Bereits 1970 wurde die Strukturpolitik der Neu-Industrialisierung um "Bestandspflege", d.h. um sektorale Förderung des Bergbaus und der Energiewirtschaft (Kohleveredelung, Atomenergie) erweitert und faktisch annähernd ersetzt, also im Kern konterkariert.
Kraftwerk Scholven in Gelsenkirchen
Quelle: E.ON Kraftzwerke GmbH
Dabei standen überraschenderweise die Altindustrie und Großkonzerne im Zentrum der Förderung. Die aber hatten bereits mit ganz ungewöhnlich dynamischer Wandlungskompetenz ganz andere Modernisierungspfade beschritten und außerhalb der Region ihre neuen Standbeine gesucht und gefunden. Mit Gründung der Ruhrkohle AG (RAG) im Jahr 1969 hatten sich beispielsweise die großen Stahlkonzerne von ihrem Bergbaubesitz getrennt. Kohle und Stahl beschritten fortan unterschiedliche Wege. Die RAG wiederum hat 2003 den Chemie-Konzern Degussa übernommen. Die Sparten Chemie, Strom und Immobilien gingen 2007 in dem Unternehmen Evonik auf. Erst die "zweite Generation" der Bestandspflege war dem Mittelstand gewidmet (s.u.).
(c) Geistige Mobilisierung: Die Bildungsblockade hatte sich im Ruhrgebiet bis Mitte der 1960er Jahre halten können, da man mit und seit Kaiser Wilhelm II. der Meinung war, dass diese Region Arbeiter, nicht aber Studenten benötige. Angesichts der Strategie der Neu-Industrialisierung musste sich dieses Defizit als zentrale Entwicklungsbarriere erweisen. Um das allgemeine Bildungs- und Qualifikationsniveau zu heben und den Erfordernissen der neuen Produktionsstrukturen anzupassen, erlangte daher der Ausbau der Bildungs- und Weiterbildungsinfrastruktur mit dem Entwicklungsprogramm Ruhr (EPR) höchste Priorität.

Im Jahr 1965 nahm die Ruhr-Universität in Bochum ihren Lehrbetrieb auf, weitere Universitäten in Dortmund, Essen, Duisburg, Hagen und Witten/Herdecke sowie enger an den regionalen Qualifizierungs- und Forschungsbedarf gekoppelte Fachhochschulen folgten (s. Thema "Hochschulen und Forschung"). Im Bereich des Straßenbaus und der Bildungsoffensive kann das EPR durchaus Erfolge vorweisen. Aber im eigentlichen Kernanliegen, der Schaffung neuer Arbeitsplätze, blieben die Erfolge bescheiden. Zudem misslang auch die Durchsetzung der Entwicklungsschwerpunkte, das Modell stieß bei den Kommunen auf Widerstand und wurde unterlaufen (Wissen 2000, S. 53).

Das Nordrhein-Westfalen-Programm (NWP 1975) konkretisierte und erweiterte das EPR. Dabei wandte sich jedoch das Leitbild von der Neu-Industrialisierung ab und rückte die Re-Industrialisierung, die Modernisierung bestehender Strukturen in den Vordergrund: Das Land sollte zum Energiezentrum der Bundesrepublik werden.

Dieses Ziel kam jedoch nur noch ansatzweise zum Tragen, denn die "große Krise" von 1974/75 - verstärkt durch den "Ölpreis-Schock" - führte zu bisher nicht gekannten und mit dem bisherigen Instrumentarium der Strukturpolitik nicht regulierbaren Wirkungen. Die Erfahrungen der Produktivitätskrise, Massenarbeitslosigkeit, Arbeitskämpfe, weltwirtschaftlichen Liberalisierung und Deregulierung machten einen grundlegenden Strategiewechsel erforderlich (vgl. dazu Wissen 2000, S. 59ff).
Ruhr-Universität Bochum
Quelle: RVR-Fotoarchiv (Liedtke)